Elsass 39-45: Menschen im Krieg

Appel à communication

Zusammenfassung

Die Gedenkveranstaltungen zum achtzigsten Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Frankreich bieten die Gelegenheit, die Bildung nationaler Narrative über die Libération zu hinterfragen und über die Einbeziehung heterogener regionaler Gedächtnisse nachzudenken. Mit diesem Ziel organisieren die UMR 3400 ARCHE der Université de Strasbourg und die Archives d’Alsace eine Reihe von wissensc haftlichen und kulturellen Veranstaltungen, die der besonderen Geschichte des Elsass im Zweiten Weltkrieg gewidmet ist und den Arbeitstitel „Elsass 39-45: Menschen im Krieg“ trägt. Dabei soll über die sehr spezifische Art und Weise nachgedacht werden, wie das Elsass befreit wurde und wie die zum Zeitpunkt der Befreiung im Elsass anwesenden Menschen diese erlebten. Dabei soll auch der spezifische Kontext, aus dem das Elsass befreit wurde, erneut untersucht werden, nämlich die De-facto-Annexion durch das „Dritte Reich“.

Eine wissenschaftliche Tagung wird am 6. und 7. Februar 2025 in Strasbourg stattfinden, sowie acht Vortragsveranstaltungen und Podien zwischen November 2024 und Juni 2025 im ganzen Elsass. Diese Reihe wird die aktuelle  historiografische Erneuerung zum Thema Elsass im Zweiten Weltkrieg dokumentieren und zu ihr beitragen. Die Präsentation von fünfzig biografischen Fallstudien wird von der Vielfalt und Komplexität individueller Lebenswege  im Kontext des Krieges, der Annexion durch ein totalitäres Regime und der Befreiung zeugen.

Beschreibung

Im Unterschied zum übrigen Frankreich, aber ähnlich wie viele andere europäische Gebiete, wurden das Elsass und das Departement Moselle ab 1940 de facto von NS-Deutschland annektiert. Sie unterlagen einer Germanisierungs- und Gleichschaltungspolitik, deren Höhepunkt die Einführung der deutschen Wehrpflicht im Sommer 1942 war. Diese spezifische Situation führte nicht nur zu verstärkter Repression und zu einer höheren Sterblichkeitsrate als im restlichen Frankreich, sondern verlangte von jedem Einzelnen – weitaus mehr als im besetzten Gebiet – eine Position für sich zu finden und Entscheidungen zu treffen, und zwar unter dem Zwang eines totalitären Regimes. Diese besondere Konstellation trägt immer noch zu einer Spaltung der Erinnerung innerhalb des französischen Staatsgebiets wie auch innerhalb der elsässischen Bevölkerung selbst bei. Die wiederkehrenden Spannungen zwischen den verschiedenen Trägern des Gedenkens zeugen von der Schwierigkeit, einen Konsens herzustellen, der die Pluralität der vergangenen Erfahrungen integriert.

Gleichzeitig findet eine tiefgreifende Erneuerung der Geschichtsschreibung über das Elsass im Zweiten Weltkrieg statt, sowohl in Bezug auf die untersuchten Themen als auch die Quellen und die Methodologie. Die Forschung hinterfragt die Interaktion zwischen Besatzern und Besetzten auf neue Weise, überdenkt das Spektrum individueller Verhaltensweisen im Kontext der Annexion durch ein totalitäres Regime und widmet dem Alltagsleben mehr Aufmerksamkeit. Sie untersucht die Geschichte der Institutionen, ihrer Mitglieder und ihres Erbes bis heute („Reichsuniversität Straßburg“, Kirchen, Bibliotheken und Museen usw.), befasst sich mit lange vernachlässigten Minderheiten (zwangsrekrutierte Frauen, 1Homosexuelle, Nomaden, Zeugen Jehovas usw.), mit den Erfahrungen der elsässischen Bevölkerung außerhalb des Elsass („Réfractaires“, Vertriebene, Umsiedler usw.) und der nicht-elsässischen Bevölkerung im Elsass (Besatzer, Zwangsarbeiter aus Osteuropa usw.). Sie befasst  sich auch mit bislang kaum beachteten Fragen der selbstgewählten Bindung (ralliement) an das NS-Regime (ein Begriff, der in diesem speziellen Kontext besser zu dem der „Kollaboration“ passt.), der freiwilligen Meldung zur deutschen Armee, der konformistischen Verhalten oder der Suche nach Vorteilen aus dem Raub an Juden, Geflüchteten und anderen verfolgten Gruppen. Die Forschung stützt sich zunehmend auf die deutschen Quellen der damaligen Zeit, erweitert den Analyserahmen, indem sie den elsässischen Fall in die Geschichte NS-Deutschlands und des besetzten Frankreichs oder sogar ganz Europas und der anderen annektierten Gebiete einordnet, und richtet ihre Aufmerksamkeit zunehmend auf die seit 1945  entwickelten Erinnerungskonstruktionen. Auf diese Weise entsteht eine immer stärker differenzierte und inklusive Geschichte des Elsass im Zweiten Weltkrieg.

Die geplante Veranstaltungsreihe wird eine Bestandsaufnahmedieser historiographischen Erneuerung liefern, soll diese weiter fördern und ihre Ergebnisse in der akademischen Welt sowie in der breiten Öffentlichkeit verbreiten, um zu einer versöhnlichen und pluralistischen Erinnerung beizutragen, die die Komplexität und die Nuancen der historischen Analyse einbezieht. Die UMR 3400 ARCHE und die Archives d’Alsace organisieren deshalb
gemeinsam anlässlich des 80. Jahrestags der Befreiung eine Reihe von wissenschaftlichen und kulturellen Veranstaltungen zur Geschichte des Elsass im Zweiten Weltkrieg. Aus  pädagogischen und heuristischen Gründen wird das Thema über den biografischen Ansatz  angegangen, der nicht nur ein breites Publikum anspricht, sondern vor allem ein fruchtbares Analyseinstrument ist, das ein besseres Verständnis der Erfahrungen von Annexion, Krieg,
Verfolgung und Befreiung verspricht (Dosse, 2005). Viele aktuelle Gedenkinitiativen, wie das „monument mémoriel“ zu Ehren der Todesopfer des Zweiten Weltkriegs aus dem Elsass und der Moselle, das 2025 in Schirmeck eingeweiht werden soll, und mehrere der jüngsten historiografischen Neuerscheinungen zum Elsass im Krieg, etwa Untersuchungen zur freiwilligen Meldung in der deutschen Armee, zur Geschichte der „Reichsuniversität“ oder
auch zur Psychiatrie im annektierten Elsass, haben diesen Weg bereits beschritten.

Ziel ist es, ein Panel von Biografien zu bilden, die mit dem Elsass in Verbindung stehen und die  Vielfalt und Komplexität der Lebenswege in einer Kriegs- und Annexionssituation abbilden. Wir erwarten Porträts von Männern und Frauen jeden Alters, jeder sozialen Kategorie und Herkunft, unabhängig davon, ob sie den Krieg im Elsass oder außerhalb des Elsasses erlebt haben, ob sie bekannt oder anonym sind. Es könnten zum Beispiel vorgestellt werden:
Personen, die vor dem Krieg im Elsass wohnten und dann ins nicht annektierte Frankreich vertrieben wurden oder flüchteten; deutsche Beamte des NS-Regimes, die ins Elsass versetzt wurden; Zwangsarbeiter aus Osteuropa, die im Elsass eingesetzt wurden; gebürtige Elsässer, die ins Reich umgesiedelt wurden; Widerstandskämpfer oder Anhänger des NS-Regimes; Opfer von Luftangriffen oder der vielfältigen Formen der NS-Repression; Zwangsrekrutierte oder Freiwillige in der deutschen Armee, usw. Die Beiträge können sich auf eine Einzelperson beziehen, aber auch Analysen eines Paars, einer Familie, einer Altersgruppe eines Dorfs, eines Maquis oder einer anderen kleinen Gruppe sind erwünscht – dies insbesondere wenn sie es ermöglichen, Doppelbiografien zu konstruieren, in denen sich z. B. die Lebenswege zweier Brüder spiegeln, die gegensätzliche Entscheidungen getroffen haben, oder wenn sie individuelle Lebenswege anhand kollektiver Dynamiken bzw. im Rahmen eines Beziehungsnetzes erklären.

Die biografischen Fallstudien, egal ob individuell oder „kollektiv“, dürfen sich nicht auf die Beschreibung eines Lebenslaufs beschränken, sondern sollen diesen analysieren, wobei die Hindernisse der „biografischen Illusion“ (Bourdieu, 1986) zu umschiffen und die Grenzen des Ansatzes zu reflektieren sind. Jede Biografie muss in ihren Kontext eingeordnet werden und die bestimmenden Faktoren individueller Entscheidungen müssen hinterfragt werden. Besonders ist darauf zu achten, jeden Akteur – auch und gerade die oft mythisch verklärten Figuren des NS-Regimes sowie des Widerstands – in sein soziales Umfeld einzuordnen und dessen Komplexität, und eventuelle Ambivalenzen herauszuarbeiten, um ihn als soziales Wesen in einer bestimmten Situation zu verstehen. Die Referenten und Referentinnen werden außerdem ermutigt, jede Biografie nach ihrem entweder atypischen Charakter oder ihrer Repräsentativität für eine größere Gruppe zu befragen. So könnte es im Falle der Biografie eines Opfers der Shoah angebracht sein, diese in die allgemeine Geschichte der jüdischen Bevölkerung im Elsass während des Zweiten Weltkriegs oder sogar vergleichend in die Geschichte der antisemitischen Verfolgung in NS-Deutschland und im besetzten Frankreich einzuordnen. Eine andere Option wäre, die biografische Fallstudie mit einer prosopografischen Analyse in Dialog zu bringen, unter der Voraussetzung, dass die Studie hauptsächlich auf eine oder wenige Personen konzentriert bleibt. Über die Analyse eines Einzel- oder „kollektiven“ Falls hinaus soll jeder Beitrag so einen breiteren Teil der Geschichte des Elsass im Zweiten Weltkrieg beleuchten und eine allgemeine, über die Person hinausgehende Problematik liefern. Besonderes Interesse besteht außerdem an   biografischen Fallstudien, die von noch unbekannten oder kaum erforschten Aspekten des Krieges, der Annexion und der Befreiung zeugen und/oder die Komplexität individueller Situationen und Positionierungen in diesem Kontext unterstreichen.

Idealerweise sollen die Biografien so weit möglich die gesamte Kriegszeit abdecken und berücksichtigen, wie die Befreiung erlebt wurde. Je nach Konstellation, ist es jedoch auch möglich, die Analyse auf einen bestimmten Zeitpunkt der Untersuchungsperiode zu fokussieren, die Vorkriegszeit einzubeziehen, um den Werdegang während des Krieges besser zu verstehen, oder die Studie über 1945 hinaus auszudehnen, um die Auswirkungen der
Kriegsjahre auf den weiteren Lebensweg zu ermessen und Erinnerungskonstruktionen oder auch das Schweigen in Anbetracht der gemachten Erfahrungen zu untersuchen. Biografisches Schreiben muss nicht unbedingt linear sein und dem chronologischen Ablauf eines Lebens folgen. Innovationen im Bereich der biografischen Analyse und des biografischen Schreibens sowie wie Reflexionen zu Quellen, Methodologie und Herausforderungen des biografischen Ansatzes in der Geschichtswissenschaft, die auf den untersuchten Fall bezogen werden, sind ausdrücklich erwünscht.


Organisationskomitee

Carine Lévêque (Archives d’Alsace)
Catherine Maurer (Université de Strasbourg)
François Petrazoller (Archives d’Alsace)
Frédéric Stroh (Université de Strasbourg)


Deutsch-französischer wissenschaftlicher Beirat

Christian Bonah (Université de Strasbourg)
Jürgen Finger (Deutsches Historisches Institut Paris)
Benoît Jordan (Archives de la Ville et de l’Eurométropole de Strasbourg)
Audrey Kichelewski (Université de Strasbourg)
Michaël Landolt (Centre européen du résistant 3déporté)
Carine Lévêque (Archives d’Alsace)
Catherine Maurer (Université de Strasbourg)
Marie Muschalek (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
Frédérique Neau-Dufour (Région Grand Est)
Sylvia Paletschek (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
Nicolas Patin (Université de Bordeaux)
François Petrazoller (Archives d’Alsace)
Jérôme Schweitzer (Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg)
Frédéric Stroh (Université de Strasbourg)
Alexandre Sumpf (Université de Strasbourg)
Benoît Vaillot (Université du Luxembourg)
Marie-Bénédicte Vincent (Université de Franche-Comté)
Marie-Claire Vitoux (Université de Haute-Alsace)


Praktische Fragen und Zeitplan für die Bewerbung

Wir bitten um die Eisendung von Vorschlägen für Beiträge sowohl der wissenschaftlichen Tagung (6./7.2.2025) als auch der Vortragsveranstaltungen (November 2024 bis Juni 2025) mit einer Zusammenfassung im Umfang von circa 2.000 Zeichen und einer Kurzbiographie in deutscher oder französischer Sprache zugleich an catherine.maurer@unistra.fr und post@frederic-stroh.eu bis zum 28. Juli 2024.

Die Beitragsvorschläge werden dem wissenschaftlichen Beirat vorgelegt. Die Kandidaten werden bis Ende September 2024 über das Ergebnis informiert. Die Aufteilung der ausgewählten Referenten zwischen der Tagung und den Vortragsveranstaltungen wird im Dialog mit diesen erfolgen.

Die Tagung wird am 6. und 7. Februar 2025 in Strasbourg (MISHA und Archives d’Alsace) stattfinden, die Vorträge zwischen November 2024 und Juni 2025 im Monatsrhythmus dezentral im Elsass.

Arbeitssprache: Französisch und Deutsch.


Die Reise- und Unterbringungskosten sowie die Mahlzeiten werden übernommen.


Die Publikation der Beiträge ist geplant.